Von der geschriebenen Schrift zur Satzschrift »Veronika« – Der Schriftentwurf im Kontext der Schriftgeschichte

Wer mehr erfahren möchten als hier erwähnt, dem schicke ich auf Anfrage gerne eine PDF-Datei meiner Diplomarbeit »Die geschichtliche Entwicklung der Linear-Antiqua in Bezug auf meinen eigenen Schriftentwurf«.

In meinem Fall war das Studium der Geschichte der als Grotesk bezeichneten endstrichlosen Linear-Antiqua von Bedeutung, sowie die Beschäfigung mit der Geschichte der Antiqua und ihrer für den alltäglichen Gebrauch bestimmten Varianten in der Antike.
Die zahlreichen Formen der Linear-Antiqua und ihre oft sehr unterschiedliche Gestalt, die dem Wesen verschiedener Völker und Kulturen entspringen, waren für mich eine unendlich große Fundgrube für Formschönheit und Ideenreichtum.

Ich begann mit dem vorne zugespitzten Hölzchen (Stilus) zahlreiche m- und n-Formen zu schreiben. Die schönsten, meiner VORSTELLUNG am ehesten entsprechenden Buchstaben schnitt ich aus, um sie miteinander zu vergleichen und um schließlich solche Formen auszuwählen, welche die BASIS für meinen Entwurf darstellen konnten.

Ich vergrößerte die ausgewählten Buchstaben, begann durch Nachzeicnen die Form zu präzisieren und versuchte, ihrem GRUNDWESEN, ihren REGELN und ihrer Art zu funktionieren, auf die Spur zu kommen. An dem ›n‹ gefiel mir die weit unten, im linken Schaft beginnende weit nach rechts oben führende Bewegung des Bogens, die Schmalheit und Eleganz der Form und ihr weicher Fluß.

Während des Schreibens haben die einzelnen Figuren ihre eigene unverwechselbare Gestalt angenommen, weswegen im allgemeinen eine direkte Übertragung von Formdetails eines Buchstabens auf einen anderen Buchstaben nicht möglich ist, da sie in den meisten Fällen wie Fremdkörper wirken würden.

Wichtig ist, daß aus allen individuell aus der Schreibbewegung resultierenden Formen der gleiche Charakter spricht d.h., daß ihnen stilistisch eine in sich geschlossene Einheit innewohnt.

Mein Vorhaben war es, eine Linear-Antiqua zu entwerfen, die den Ansprüchen einer Buchschrift genügen würde und deren Formen den bewegten Duktus der geschriebenen Schrift beibehalten sollten.

Ich probierte verschiedene Werkzeuge aus, mit denen sich eine gleichmäßige Linie zeichnen ließ und wählte schließlich ein vorne leicht zugespitztes Hölzchen aus, das meinen Wünschen entsprach und gehorchte.

Schon bei den ersten Schreibversuchen wurde mir klar, daß die Formen der geschriebenen Schrift nicht direkt auf eine Type übertragen werden können, sondern obmals nur ihr Charakter. Da die Schreibschrift in ihren Formen und Bewegungsabläufen zu unregelmäßig und ob zu ausladend ist, muß der Grundcharakter der Formen und des Schreibduktus herausgeschält und auf die einzelnen Zeichen übertragbar gemacht werden. Spezifische, vom Schreibwerkzeug herrührende Merkmale, können zu einem einheitlichen Stilmerkmal ausgeformt werden, das sich auf alle Buchstabenformen anwenden läßt.

Es geht also darum, aus der Handschrift Merkmale herauszufiltern und ein System zu entwickeln, das auf eine Satzschrift übertragbar ist. Der Type liegt ein strengeres Formprinzip zu Grunde als der Handschrift. Obwohl beispielsweise ein A eine bestimmte Grundform hat, wird es in der Handschrift doch jedesmal anders geformt sein. Der guten Lesbarkeit einer Type zu Gunsten, müssen die Merkmale der Handschrift gemäßigt, ver- einfacht und vereinheitlicht werden.

Es empfiehlt sich, formal mit der Formengruppe m n h u o zu beginnen. Dabei lassen sich charakteristische Eigenschaften und Formelemente der Buchstaben erkennen. Diese Formgruppe ist aussagefähig hinsichtlich Strichstärke, Breite, Höhe und Rhythmus der Schrift.

Beim Schreiben mit einem Hölzchen entstehen durch den erhöhten Druck beim An- und Absetzen oder durch überschüssige Tinte, nach Eintauchen des Werkzeuges, tropfenförmige Linienenden. Da diese mir als solche gefielen und sie mir bisher aus keiner anderen Schrift bekannt waren übernahm ich sie als stilbildendes Element.

Ich verzichtete auf die Tröpfchenformen, die durch den Druck beim Absetzen des Werkzeuges an den auslaufenden unteren Enden der Schäfte entstanden, da sie in der Verkleinerung so sehr an Klarheit verloren, dass man sie in ganz kleinen Schriftgraden auf druckungenauigkeiten hätte zurückführten können und sie außerdrem wegen ihrter häufigen Wiederholung an Reiz verloren und dadurch fast störend wirkten.

Unklar darüber, wie der neue Buchstabe nun an den unteren Schaftenden abschließen sollte, ließ ich die Schäfte gerade enden. Die Buchstaben nahmen nun ein solideres und kraftvolleres Aussehen an und standen fest auf einer Linie. An der Basis wirkten die Formen jedoch verstümmelt und verletzt. (Dieser Vorgang ist an Hand der oben abgebildenten Entwicklungsreihe des n dargestellt). Es erwies sich, dass durch leichtes Anfetten der Schaftenden der weich fließende Bewegungsablauf, welcherder Form innewohnt, aufgefangen werden konnte und die verstärkten Enden einem abrupten Abbruch entgegenwirkten. Sie lassen den Leser dort Füßschen wahrnehmen, wo in Wirklichkeit keine sind. Die Zeichen scheinen im Boden verwurzelt zu sein, so wie der Stamm eines Baumes, dessen Wurzeln man nicht sieht, aber ahnt. Die Schäfte dürfen jedoch nur unmerklich angefettet werden. Schon ein Anschwellen der Linie um ein wenig mehr gibt der Form einen ganz neuen Charakter, der Assoziationen zum Jugendstil wachruft.

Ein anderes Merkmal, das seinen Ursprung in der Beschaffenheit des Werkzeuges hat, ist die leicht Variierende Strichstärke der Linie, die durchden unregelmäßigen Fluss der Tinte und die ungleichmäßige Abnutzung der Spitze des Hölzchens verursacht wurde.

Während des Schreibens haben die einzelnen Figuren ihre eigene unverwechselbare Gestalt angenommen, weswegen im allgemeinen eine direkte Übertragung von Formdetails eines Buchstabens auf einen anderen Buchstaben nicht möglich ist, da sie in den meisten Fällen wie Fremdkörper wirken würden.

Es war nicht meine Absicht, mit der ›Veronika‹ frühe griechische Gebrauchsschriben zu zitieren. Aber die Überlegung, daß Schreibtechnik und Zweckbestimmung eine gewisse Parallelität aufweisen trotz eines zeitlichen Abstandes von 2500 Jahren, macht mir Spaß.

oben und T: Griechische Schrift, vierzeilig, Ausschnitt aus einem Teil der dialektischen Abhandlung des Chrysippus, vor 159 v. Chr.

Interessanterweise wurden in der griechischen und römischen Antike für Gebrauchsschriften Werkzeuge verwendet, die im Prinzip gleiche graphische Effekte in Bezug auf den Gleichstrich und den verdickten Ansatz der Striche hervorrufen wie unsere modernen Schreibwerkzeuge (seit den 50er Jahren haben neue Schreib-, Mal- und Zeichenwerkzeuge wie z.B. Filzstift und Kugelschreiber unsere Darstellungsmöglichkeiten und Sehgewohnheiten wesentlich beeinflußt und den von der Breitfeder kommenden Wechselstrich verdrängt). Eine formale Beziehung der ›Veronika‹ zu den antiken Handschriben, insbesondere den griecishcen ist deutlich erkennbar. Sie beruht auf der Tatsache, daß sie genauso wie die griechischen mit einem Stilus geschrieben wurde.

Schreiben ist nach meinem Verständnis unbedingte Voraussetzung dafür, die Formensprache der einzelnen Buchstaben zu begreifen. Schreiben schult das Gespür für organisch ablaufende Bewegungen und das Erfassen der Formen, die durch sie entstehen. Schreibend entwickle
ich das Gefühl für die Art des Zusammenspiels der Detailformen eines Buchstabens und der Buchstabenformen im Zusammenhang des Alphabetes. Es kommt darauf an, die Gesetzmäßigkeiten dieses Zusammenspiels zu durchschauen. Dann kann es beim Entwerfen in einer einheitlich und konsequent durchgeführten Form zum Ausdruck gebracht werden.

Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß individuelle Ausdrucksfähigkeit und schöpferische Kraft auf dem Gebiet der Schriftgestaltung ihren Ursprung in der persönlich gemachten Entdeckung und geistigen Aneignung von Formqualität und Formreichtum historischer Schriften haben.